Das Medium Schnee

Das Medium Schnee

Karl Gabl

Das bekannte und doch so fremde Medium Schnee erklärt am Beispiel Arlberg.

Karl Gabl, Meteorologie-Sachverständiger


Aus dem Arlberg Magazin, #1 – Winter 2013/14.

Milliarden von Schneeflocken überziehen den Arlberg jedes Jahr wieder mit einer weißen Schneedecke. Wintermärchen, Pulvereuphorie, weiße Lust sind typische Attribute, um den enormen Schneereichtum am Arlberg zu beschreiben. Ein herrlicher Anblick und ein traumhaftes Erlebnis, über die jungfräulichen Pulverhänge ins Tal abzufahren.

Beim genussvollen Schwingen über die mit tiefem Pulverschnee bedeckten Hänge denkt man selten an das Wunder Schnee und die Physik, die dahinter steckt. Eine Schneeflocke, das ist ein sechseckiger Stern (Dendrit), ist eine weit verbreitete Annahme, weil Schneekristalle meist vereinfacht so dargestellt werden. Schon der bekannte Naturforscher Johannes Kepler beschrieb um 1600 die sechseckige Struktur der Schneekristalle in seinem Werk: „De nive sexangula“. Seine Beobachtungen wurden später auch mit der Kristallgitterstruktur von Eis wissenschaftlich belegt. Doch mit Dendriten ist es längst nicht getan. Es gibt eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Schneekristallen. Je nach Temperatur und der in der Luft enthaltenen Feuchtigkeit bilden sich die unterschiedlichsten Formen. Dabei gilt: Je feuchter die Luft in der Wolke ist – dabei kann die Sättigung gegenüber einer Eisfläche bis zu sage und schreibe 160 Prozent betragen –, desto komplexer kann die Form des Schneekristalls sein. Daneben hängt das Aussehen der Schneekristalle aber auch von der Geschwindigkeit ihres Wachstums ab.

Die stark verästelten Schneekristalle bilden sich relativ rasch bei Temperaturen zwischen -13 °C und -16 °C, die dünnen Platten, Nadeln und hohle Säulen (Prismen) bei Temperaturen zwischen 0 °C und -8 °C, die dicken Platten werden bei Temperaturen etwa zwischen -10 °C und -20 °C generiert, die Raritäten unter den Schneekristallen – volle Säulen und vereinzelt auch hohle Prismen – noch bis -39 °C.

Aus der Kombination von Platten und Prismen entstehen auch Hanteln. Kugelförmige Graupelkörner deuten auf eine Ablagerung des in der Luft überreichlich enthaltenen Wasserdampfes hin, der sich ähnlich dem Anraum bei einem Gipfelkreuz um den ursprünglichen Dendriten ablagerte. Aber auch die mit dem bloßen Auge kaum zu erkennenden Eisnadeln, die die Sonne bei der Reflexion gleißen lassen, sind Schneekristalle. Werden große Schneeflocken mit ihrer großen Oberfläche nicht vom turbulenten Wind auf und ab gejagt, schweben sie infolge ihres hohen Luftwiderstandes mit einer Geschwindigkeit von ca. 4 km/h langsam zu Boden. Zum Vergleich: Die „schlankeren“ mittelgroßen Regentropfen erreichen etwa 20 km/h, Hagelschloßen mit einem Durchmesser von 2 Zentimetern fallen mit 70 km/h, sehr große Schloßen erreichen auch eine Geschwindigkeit von 150 km/h.

Der mittlere Durchmesser von Schneeflocken beträgt 0,5 Zentimetern. Glaubt man dem Guinness-Buch der Rekorde hat der größte Verband von kleinen Kristallen, die Riesenschneeflocke, einen Durchmesser von 38 cm. Schneeflocken erzeugen bei ihrem Fall auf Wasser einen schrillen hohen Ton mit einer Frequenz zwischen 50 und 200 Kilohertz, der vom menschlichen Ohr aber nicht gehört werden kann.

Den größten Genuss bringen dem Skifahrer die frisch gefallenen, meist sternförmigen Kristalle, die auch am häufigsten vorkommen. Baut sich eine Schneedecke auf, bleiben die Schneekristalle nicht in ihrer Form erhalten. Schon beim Fallen werden sie mechanisch durch den Wind zertrümmert und verfrachtet. Dabei bildet sich abseits der gepflegten Pisten ein ungeliebter Windharschdeckel, der den Könnern alle Fahrkünste abverlangt. Die größte Gefahr für den Skifahrer, neben den durch enorme Neuschneemengen ausgelösten Lawinen, lauert im Untergrund der Schneedecke: Der Schwimmschnee oder auch Tiefenreif. Dieser bildet sich innerhalb von wenigen Tagen bei einer gering mächtigen Schneedecke und sehr tiefen Lufttemperaturen. Die bei dem starken Temperaturgefälle in der Schneedecke entstehenden Kristalle werden größer als der bereits gesetzte Schnee. Die kantigen und becherförmigen Kristalle des Schwimmschnees haben wegen ihrer Form untereinander eine deutlich schlechtere Bindung. Die Festigkeit des Schnees wird verringert, die Schneedecke destabilisiert. Oft wird die Lawinengefahr noch zusätzlich durch einen Windharschdeckel oder durch Einwehungen von Schnee erhöht.

Übersät mit Millionen Reifkristallen glitzert die Schneedecke im Sonnenlicht. Oberflächenreifkristalle wachsen mehrere Zentimeter in die Höhe. Besonders große Reifkristalle findet man nach einer längeren Schönwetterperiode auf einer Wanderung im Ferwall zwischen dem Maroibach und dem Rasthaus Ferwall. Wie Diamanten glänzen die Oberflächenreifkristalle neben der Langlaufloipe im Sonnenlicht.

Schnee ist flaumig, Schnee ist schwer. Lockerer, flaumiger, zum Jucherzen reizender Pulverschnee erreicht eine Dichte von etwa 50 bis 80 kg/m³, mittlerer Neuschnee etwa 100 kg/m³, eine längerer Zeit liegende Schneedecke  etwa 250 bis 300 kg/m³. Diese Werte gelten auch für Schneelasten auf Häusern und Heuhütten. Leicht kann man sich die Schneelast auf dem Dach ausrechnen. Pro 10 cm Höhe etwa 25 bis 30 kg/m². Was macht aber nun ausgerechnet den Arlberg so schneereich? Die vom Atlantik oder von der Nordsee einfließenden feuchten Luftmassen werden durch die Alpen zum Aufsteigen gezwungen. Im Staubereich, am Arlberg auf der Westseite in Langen, fallen insgesamt in einem Jahr etwa 9 Meter Schnee, in St. Anton im Lee des Arlbergpasses noch fast 5 Meter. Zwischen der Ulmerhütte und der Valluga werden interpolierte 12 Meter Neuschnee pro Jahr erreicht. Ein üppiges Vergnügen zwischen Dezember und April für den Powderfreak.